Wie weiter nach dem 19. April? Epidemiologe Marcel Salathé erklärt, wie die Schweiz aus dem Lockdown herauskommen könnte

Ein ETH-Professor schlägt vor, Kontakte von Erkrankten nachzuverfolgen und Betroffene unter Quarantäne zu setzen. Im Interview zeigt er auf, wie dies ohne Eingriff in die Privatsphäre möglich ist und welche Massnahmen es braucht, damit das Land zur Normalität zurückfindet.

Larissa Rhyn
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So viele Tests wie möglich machen: Das ist nur ein Teil der Methode, die Marcel Salathé und andere Wissenschafter vorschlagen.

So viele Tests wie möglich machen: Das ist nur ein Teil der Methode, die Marcel Salathé und andere Wissenschafter vorschlagen.

Thilo Schmuelgen / Reuters

Herr Salathé, gibt es eine Möglichkeit, den Lockdown in der Schweiz am 19. April zu beenden, ohne dass die Zahl der Coronavirus-Patienten direkt wieder in die Höhe schnellt?

Ja, aus wissenschaftlicher Sicht gibt es die. Man könnte jeden neuen Covid-19-Fall schnell identifizieren. Das ist zentral, weil wir gegenwärtig davon ausgehen, dass die meisten Schweizerinnen und Schweizer noch nicht immun sind gegen das Virus. Wenn wir einfach wieder alle Türen aufmachen, sind wir deshalb in null Komma nichts wieder gleich weit wie Mitte März.

Sie schlagen zusammen mit anderen Wissenschaftern vor, dass die Schweiz die Methode «Test-Isolate-Quarantine» anwendet. Was heisst das?

Bei dieser Methode müssen zuerst einmal deutlich mehr Personen auf das Virus getestet werden. Jeder, der auch nur leichte Symptome hat, muss einen Test machen können, bevor er wieder arbeiten geht. Erkrankte schnell zu isolieren, reicht aber nicht. Denn ein Betroffener ist ja bereits ansteckend, bevor er erste Symptome spürt. Darum ist es wichtig, sämtliche Personen zu finden, mit denen ein Patient Kontakt hatte. Die Kontaktpersonen sollten sich auch so schnell wie möglich in Quarantäne begeben können.

Das klingt ähnlich wie die Massnahmen, die Bund und Kantone zu Beginn der Corona-Krise getroffen haben. Sie nützten wenig.

Man muss sich das so vorstellen: Als Covid-19-Patient ist man ein Funke, der leicht zu einem Waldbrand führen kann. Darum darf kein einziger Fall vernachlässigt werden. Doch bis vor wenigen Wochen hatten wir in der Schweiz die dafür nötige Test-Kapazität noch nicht. Mittlerweile hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Kapazitäten ausgebaut, und es können rund 7000 Tests pro Tag gemacht werden. Das ist ein guter erster Schritt. Aber aus meiner Sicht reicht es nicht.

An wie viele Tests denken Sie denn?

Marcel Salathé, Professor an der ETH Lausanne.

Marcel Salathé, Professor an der ETH Lausanne.

PD

Eine fixe Zahl zu nennen, ist schwierig. Aber jeder, der Husten oder andere Symptome hat, soll sich schnell und unkompliziert testen lassen können. Die Jahreszeit kommt uns entgegen: Ende April ist die Grippesaison zu Ende, und es sind in der Regel weniger Leute erkältet. Entsprechend sollte die Zahl der Tests nicht explodieren. Aber Leute, die im Gesundheitswesen arbeiten oder sonst mit vielen Leuten in Kontakt kommen, sollten sich immer wieder testen lassen können.

Sind so viele Tests überhaupt möglich, wenn Spitäler oder Praxen personell am Anschlag sind?

Das könnte man logistisch lösen, indem man die Tests anderswo durchführt. In den USA hat die Arzneimittelbehörde FDA nun sogenannte Point of Contact Tests zugelassen. Damit kann ein Test innert weniger Minuten durchgeführt werden. Diese Maschinen könnte man an Praxen verteilen – oder auch eigens Test-Standorte einrichten, wie dies mehrere Kantone bereits gemacht haben.

Vorausgesetzt, das BAG kann die Zahl der Tests weiter erhöhen: Halten Sie es dann für realistisch, dass Geschäfte und Restaurants Ende April wieder öffnen können?

Das hängt davon ab, wie sich die Fallzahlen in den kommenden drei Wochen entwickeln. Bis jetzt sehen wir, dass sich die Kurve der neuen Fälle leicht abflacht. Doch der Rückgang ist noch nicht so stark, wie er sein sollte. Die Methode «Test-Isolate-Quarantine» funktioniert aus wissenschaftlicher Sicht dann, wenn es nur wenige neue Fälle pro Tag gibt. Sobald die Zahl zu hoch ist, wird es schwierig, das exponentielle Wachstum zu bremsen.

Kann das Virus gestoppt werden, wenn alle Erkrankten und deren Kontaktpersonen schnell isoliert werden?

Definitiv loswerden könnten wir es so wohl nicht. Aber wir könnten die Ausbrüche auf kleinem Niveau halten. Damit bestünde nicht mehr die Gefahr, dass unser Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt.

Und was sollen diejenigen Menschen tun, die zur Risikogruppe gehören? Müssen sie weiterhin zu Hause bleiben?

Ich denke, sie müssten nicht zwingend zu Hause bleiben. Aber solange es keine Impfung gibt, gilt für sie dasselbe wie für alle anderen auch: den Massnahmen des Bundes folgen, weiterhin Distanz halten und regelmässig die Hände waschen. Dazu kommt das Tragen von Masken. All diese Massnahmen sind wie unterschiedliche Beilagen eines Menus: Alleine sind sie wenig schmackhaft, aber in der Kombination führen sie zum Erfolg.

Masken? Deren Nutzen ist doch in der Fachwelt stark umstritten. Auch das BAG hat wiederholt davon abgeraten, eine Maske zu tragen, wenn man nicht krank ist.

Man hat gemerkt, dass es zu Beginn zu wenige Masken für das Gesundheitspersonal gab und diese somit sparsam eingesetzt werden mussten. Aber dass Masken die Übertragung des Virus bremsen können, ist aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich klar. Ich gehe deshalb davon aus, dass Masken künftig auch in der Schweiz stärker zum Alltag gehören werden. In vielen asiatischen Ländern ist das ja schon heute der Fall.

Wer soll denn eine Maske tragen: Nur diejenigen mit Symptomen oder alle?

Die Maske führt dazu, dass ich weniger Leute anstecke. Aber sie senkt auch das Risiko, dass ich mich selbst anstecke. Klar darf man nicht die Illusion haben, eine OP-Maske biete den perfekten Schutz. Aber allein die Tatsache, dass ich mir weniger an Mund und Nase fasse, wenn ich eine Maske trage, verringert das Ansteckungsrisiko. Das ist sicher auch einer der Gründe, warum sich das Virus in Japan und anderen asiatischen Ländern weniger schnell verbreitet als in Europa, wo Masken kulturell bisher weniger akzeptiert waren.

Die Methode, die Sie vorschlagen, basiert auch darauf, Kontaktpersonen schnell zu finden. In Südkorea gelingt dies bereits dank umfangreicher Handy-Überwachung. Aber das ist in der Schweiz politisch kaum machbar.

Südkorea arbeitet mit GPS-Daten, die teilweise gar öffentlich gemacht werden. Ich weiss nicht, wie in Europa die Akzeptanz für eine so umfangreiche Überprüfung wäre. Aber es gibt andere Technologien, die mit der physischen Distanz statt mit Geolokalisation arbeiten. Auch dabei werden Handys genutzt. Sie registrieren aber nur, dass sie in der Nähe eines anderen Handys waren, beispielsweise mittels Bluetooth-Signal. Sobald ich dann positiv getestet werde, können automatisch alle anonym benachrichtigt werden, die ich angesteckt haben könnte. Beispielsweise eine Person, der ich längere Zeit im Zug gegenübersass.

Gibt es bereits eine solche Technologie, die ohne Datenschutz-Bedenken eingesetzt werden könnte?

Es gibt verschiedene Technologien, doch bei den meisten sind derzeit in Bezug auf die Privatsphäre noch Fragen offen. Damit das sogenannte Proximity Tracing funktioniert, müssen die Leute der Technologie aber vertrauen und sie freiwillig nutzen. Denn in der Schweiz kann man kaum anordnen, dass alle eine Technologie verwenden müssen. Das entspricht nicht unserer politischen Kultur.

Die Hürde, eine App auf dem Handy zu installieren, die merkt, wann man in der Nähe welcher Person war, dürfte gross sein.

Wichtig ist, dass offen kommuniziert wird. So müsste beispielsweise der Source Code eines solchen Systems offengelegt werden. Dadurch könnten die unterschiedlichen Gruppen, die sich mit dem Schutz der Privatsphäre beschäftigen, prüfen, ob die Daten sicher sind. Es sollte einen Konsens geben, dass die Technologie vertrauenswürdig ist – und zwar international. Wenn ich an einer Konferenz in Deutschland bin, will ich auch benachrichtigt werden, falls ich mit einer Person in Kontakt gekommen bin, die später positiv getestet wird. Es braucht eine Technologie, die von allen genutzt werden kann, egal in welchem Land sie leben oder welches Smartphone sie nutzen.

Halten Sie es für realistisch, dass es in Europa eine einzige App gibt, die alle Staaten nutzen?

Es wird sicher unzählige Apps geben, aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass sie alle auf derselben Technologie beruhen, damit wir wieder reisen können. Und das halte ich für machbar.

Wissen Sie, ob das BAG die Strategie «Test-Isolate-Quarantine» für die Zeit nach dem 19. April in Betracht zieht?

Das weiss ich leider nicht. In der Zwischenzeit arbeiten wir Wissenschafter auf Hochtouren. Wir möchten möglichst bald zu einer Lösung beitragen können, damit das öffentliche Leben in der Schweiz wieder anlaufen kann.

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